Sonntag, 10. Januar 2016
Ein Wort zuviel
Samstag, 9. I. 16, sonnig:
Schreibtisch: Welches sich als noch deutlich schlimmer als das andere herausstellt.
Nach dem Frühstück ein langes, unangenehmes und doch erleichterndes Gespräch.
Dass ich es bei der Neujahrskarte in diesem Jahr bei 200 Exemplaren belassen sollte. Ein radikaler, sinnvoller, letztlich sogar seit vielen Jahren überfälliger und unvermeidlicher Schritt.
Es ist überhaupt das erste mal, dass ich von meiner Verzweiflung angesichts meiner derzeitigen beruflichen Situation sprechen kann. Sib fühlt bei mir eine große Lähmung, was einerseits stimmt, andererseits ist sie auch eher eingebildet, was ich mit meinem Bienenfleiß belegen könnte.
Gegen 2 Rechner zur Korrespondenz mit Kottkamp an. Dabei großes, schon körperliches Unbehagen. Beobachte den Dampf aus dem Schornstein gegenüber und ein Flugzeug mit Kondensstreifen.
Biete für die Kurzstrecke ein Feature über Piradio an, etwas Radiotauglicheres fällt mir gerade nicht ein.
Beschissen gehts mir nach wie vor. Wie gut, dass ich krank bin, ich würde es hassen, mich so zu fühlen, wenn ich gesund wär. Quäle mich entsprechend absurd an dem Gutschein.
Krankheit, so ist es, muss es akzeptieren.
Schaffe es trotzdem, den Kapitel- und Honorarvorschlag, 100,- für 4000 Zeichen, an Eva Röthel zu schicken, nachdem ich die ersten Brasilien-Abenteuer von Siegfried Pater gelesen habe.
Gestalte den Gutschein für Gabi fertig und telefoniere mit ihr wegen der Übergabe.
Stelle circa 100 Datensätze auf Email für die Neujahrskarte um, in Wahrheit wird kaum jemand die Karte auf Papier vermissen.
Sofa: Auf einer Skala von 10 = überglücklich bis 1 = zu Tode betrübt fühle ich mich heute bei 3.
Liege vor der Dokumentation "HMS Erebus" (GB 2015) über die Franklin-Expedition von 1845 und das Wiederfinden eines der verschollenen Schiffe. Vier Bücher lese ich derzeit hauptsächlich, Knausgard ist in der Acker-, hier sind es neben "Dem Zauberberg" noch "Astrid Lindgren, ihr Leben" von Jens Andersen und "Einstein in Berlin" in Englisch. Bleibe bei Pippis Schöpferin:
"Wir alle waren kleine süße Kinder, die groß geworden sind und sterben müssen."
(Schreibtisch, 10. I. 16:) Danach folgt eine extrem schlechte Doku über Elton John, sie macht den Eindruck, als hätten sie ein fünfminütiges Gespräch mit dem Musiker in einem Hotelfoyer mit Einlassungen der entferntesten Bekannten, die denkbar sind, zum Film hochgemotzt.
Sofa: heute journal: Abschiebung für vergewaltigende Flüchtlinge, da sind sich die Populisten einig. 3000 kommen derzeit pro Tag trotz Winter. Die aus Frankreich nach Israel eingewanderten Juden fühlen sich dort deutlich sicherer.
Den Zauberberg hebe ich mir fürs Bett auf. Leider ist dieser Zauberblog völlig ungeeignet zum Vortrag in Reform- oder anderen Lesebühne.
Bett: Vor halb 12 hier oben, wo heute morgen der unglückliche Tag begann.
"Ein Wort zuviel"


Sonntag, 10. I. 16, bedeckt & mild:
Schreibtisch: Auf Stralau bei Rummelsburg, wir gehen einen besonderen Weg am Wasser entlang zu einem Haus, auf dessen Dach man mit einer Leiter klettern kann. Oben drauf haben Silke und Zwieg ein separates Haus, von dem man aufs Wasser und auf den Strand gegenüber blickt. Dort sind Bungalows mit Urlaubern. In dem Dachhaus ist eine Party, ein Anruf kommt. 300 Euro bezahlen sie und dafür kann man es auch von ihnen mieten. In einem Zimmer sieht man im Dach einen Bauwagen, da wohnen auch welche.

Das Fenster war die ganze Nacht weit geöffnet und zum Morgen schreit ein verwirrtes Vögelchen wie am Spieß als sei es Frühling.
Halb 11 sitze ich merkwürdig gut gelaunt am Rechner, diese schwankende Stimmung ist ein Rätsel der Psychologie.
Schreibe an einem Text für heute Abend, oder, wenn ich Thomas Mann vertrauen kann, für heute abend:
Gut reingekommen?
Dieses Silvester werden wir alle nicht so schnell vergessen, nehme ich an. Herr Binner hatte die üblichen großzügigen Vorräte an Bier, Sekt und Schnaps gekauft und empfing uns in seiner Wohnung in Baumschulenweg. Nach alter Tradition sollte gesoffen und gezockt werden bis wir auch diese besonders unangenehme Nacht herum bekommen hätten.
Ich hatte Pfannkuchen mit, Glückskekse waren vorbereitet, eine Suppe, Weintrauben und natürlich alles, was drehte.
Aber dann stellte sich heraus, dass niemand von uns Alkohol trank und dass Juston Spiele verabscheute. Eigentlich war Spielen das einzige, was er noch etwas mehr hasste als Alkohol.
So saßen wir also mit unseren bunten Papierhütchen um den großen Tisch herum und wir konnten hören, was die anderen dachten und es waren keine guten Gedanken.
Dagegen war es vor einem Jahr ein verhältnismäßig guter Abend gewesen, als ich Herrn Binner kennengelernt hatte. Ich war von Juston Buße zu einer kleinen, aber feinen Lesebühne nach Schöneberg eingeladen worden und ich mag Juston recht gern.
Warum man jemanden mag oder warum nicht ist oft rational nicht zu erklären. So habe ich lange Helmut Schmidt gehasst, obwohl er mir eigentlich gar nichts getan hatte. Auch auf Joachim Gauck bin ich sauer und so geht es mir mit vielen Politikern.
Aber umgekehrt ist es angenehmer, denn ich finde aus genauso irrationalen Gründen viele mir ebenfalls völlig fremde Menschen sympathisch. Astrid Lindgren, diesen übergewichtigen Tagesschau-Sprecher, den Kurdenführer Barsani.
Es war ein recht besonderer Tag damals im Dezember 2014, denn an dem Tag hatte ich meinen Vater beerdigt. Problemlos hätte ich natürlich die Lesung absagen können, aber in solchen extremen Lebenssituationen habe ich bestimmte Routinen immer eher als hilfreich erlebt. Es hilft mir, wenn es möglich ist, in Phasen starker seelischer Erschütterungen weiter zum Fußball zu gehen, weiter zu den vereinbarten Lesungen, weiter einzukaufen und fernzusehen. Einfach weiter machen, als wäre nichts geschehen um dabei zu merken: Das geht noch. Das auch. Und das leider nicht.
"Icke lad mir Gäste ein..." hieß die Lesebühne, und dort lernte ich Herrn Binner kennen, einen Musiker, den ich sofort für die Reformbühne gewinnen wollte, als ich ihn erlebte. Es war auch sonst ein sehr einträglicher Abend, denn ich konnte nicht nur ihn engagieren, sondern noch einen genialen Opernsänger, Juston selbst und ich lernte auch einen Blinden kennen, der kürzlich der erste Leser in der Reformbühne war, der seine Manuskripte in Braille ausgedruckt hatte und sie mit den Fingern ablas.
Herr Binner war ein Berliner und für einen solchen sehr nett. Angeblich sind die meisten Berliner nett, aber sie verstehen es, diese Eigenschaft unter Grobheit und Pöbelei so zu verbergen, dass niemand sie erahnen kann. Ich weiß das, denn ich bin in Berlin geboren und nach mancher großzügigen Definition darf ich mich selber Berliner nennen.
Ich würde das Verhältnis zu Herrn Binner, der sich zusammen als ein Wort mit großem Binnen-B schreibt, als Freundschaft bezeichnen. Denn im Sommer lud er mich ein nach Neukölln in eine Kirche, wo ich mit und vor vielen freundlichen Leuten lesen konnte und auch seine Frau und seinen Sohn kennenlernte.
Auch in der Reformbühne kam er sehr gut an, ich bin immer froh, wenn meine Einschätzung sich durch die Wirklichkeit bestätigt. In 9 von 10 Fällen liege ich damit richtig, aber leider weiß ich vorher nie, welches der 10. Fall sein wird und wer dann also in der Reformbühne auf eiskaltes Schweigen und peinlichen Höflichkeitsapplaus stoßen wird.
Doch zurück zur Silvesternacht. Von Herrn Binner, der in einem Wort geschrieben wird, wusste ich von Facebook, dass er Herbert heißt. Nun stellte sich aber heraus, dass sein wirklicher Name Ulrich sei. Er behauptete, ihm sei es völlig egal, wie er genannt werde.
Es waren noch seine Frau dabei, meine Liebste, eine Eva, der schon erwähnte Juston und ein Morten oder Thorben. Leider gibt es bestimmte Namen, die ich immer verwechsle. Christoph und Christina gehören dazu, Ronald und Roland, Christine und Christiane und leider auch Morten und Thorben.
Dabei hätte ich den längst kennen müssen, denn er moderiert eine Radiosendung direkt vor meiner, so dass ich ihn jeden Monat im Studio sehe. Ich weiß von ihm, dass er bei der Partei arbeitet, die die Mauer wieder aufbauen will und trotzdem kann ich mir nicht merken, ob er Morten oder Thorben heißt.
Es geht mir übrigens mit manchen Straßen auch so, die Saarbrücker und Strassburger verwechsle ich immer, manchmal auch die Belforter Straße.
Immerhin, wenn dieses Silvester-Beisammensein irgendeinen Nutzen hatte, dann den, dass ich jetzt doch glaube, dass er Thorben heißt, denn kein Deutscher heißt Morten.
"Und Ihr trinkt wirklich keinen Alkohol?" Herr Binner wollte es nicht so richtig glauben, vor allen Dingen, weil es ja Silvester war und die Stimmung anstatt feuchtfröhlich trockentraurig.
Immerhin war niemand von uns vom Knallen begeistert. Ich hoffe ja, irgendwann in einer Silvestergeschichte den Satz benutzen zu können:
"Er hat an Silvester viel Pech gehabt, er musste danach seine Beine unter die Arme nehmen."
Herr Binners Frau fragte, ob wir wüssten, woher das Wort Böller kommt. Ich tippte auf eine Steigerungsform von langweilig, abgeleitet von Heinrich Böll. Mir wurde widersprochen, Böll sei doch nicht langweilig, im Raum herrschte Dr. Murkes gesammeltes Schweigen. Ach, meinen Hass auf Heinrich Böll habe ich vergessen zu erwähnen, auch völlig irrational, vielleicht, weil er den Literaturnobelpreis bekommen hat und ich nicht.
Das ist das Problem mit diesen irrationalen Hasspersonen, dass man sich darüber so richtig gut nur mit Gleichgesinnten austauschen kann, und hier waren keine Gleichgesinnten.
Meine Lieblings-Hassfigur ist übrigens Rainer Werner Fassbinder, der es geschafft hat, innerhalb von absurd kurzer Zeit eine gigantische Menge extrem langweiliger Filme zu drehen. Sadistisch, charakterlich minderwertig, drogensüchtig und fett, völlig humorfrei, theatralisch und unendlich langweilig, so war Fassbinder und wäre er noch heute, wenn er nicht zum Glück so früh ins Grass gebissen hätte. Wieso er jemals als talentiert galt kann ich nicht das kleinste bisschen verstehen.
Zum Glück konnten wir mit Thomas Mann und seinem "Zauberberg" ungefährlichere Gewässer erreichen. Ich bekam die Ausgabe von Herrn Binners Mutter gezeigt.
Jedenfalls ließ sich Juston dann darauf ein, trotz seines Hasses auf jegliches Spielen und seiner Übellaunigkeit, die ihn dabei überwältigte, mitzuspielen:
"In Tarragona raubt ein Mann eine Bank aus, indem er zur Verwirrung 2000 Kanarienvögel in der Schalterhalle fliegen lässt." Damit es nicht zu langweilig wurde, hatte ich extra das Kartenspiel "Sex & Crime" mitgebracht. Es heißt "Anno Domini" und man muss dabei schätzen, wann bestimmte Ereignisse stattgefunden haben.
"Frederik VIII., König von Dänemark, stirbt in einem Hamburger Bordell"
"Das war doch vor zwei Jahren!" Man muss bei diesem Spiel etwas pokern, also den Eindruck machen, als wüsste man recht genau, wann das jeweilige Ereignis war, das man in die richtige Reihenfolge auf den Tisch einordnen muss.
"Bei Christie's in London gelangt der Penis Napoleons zur Versteigerung"
"Ein Zentimeter, das verschrumpelte Ding war nur einen Zentimeter groß und ein Urologe aus Amiland hat es gekauft für 3900 Dollar!"
"Der Maler Caravaggio tötet den Zuhälter seines Modells Fillide Melandroni beim Versuch, ihn nach einem Streit zu kastrieren"
"Da war ich gerade in Italien, die Nachrichten waren voll davon! Es ging ein bisschen unter, weil kurz darauf Ratzinger Papst wurde." Eigentlich war schon klar, dass Juston gewinnen würde, aber es besserte seine Laune kein bisschen. Spiele, daran war für ihn nicht zu rütteln, sind einfach das letzte. Darüber habe er schon so viele Geschichten geschrieben.
"Am Amazonas kommt es zu einem Kampf zwischen Spaniern und einem Frauenheer"
"Genau, daher kommt der Name Amazonas."
"Das älteste bekannte Emfpängnisverhütungsmittel"
"Das war im 19. Jahrhundert vor unserer Zeit ein Rezept auf Papyrus für ein Zäpfchen aus Krokodilkot." A propos.
Morten oder Thorben, so stellte sich heraus, hatten eine gemeinsame Drogen-Vergangenheit und als Punkmusiker. Sie erzählten dann doch recht lustige Anekdoten davon und spielten ihren Song "Hurensöhne" vor.
Juston war nicht begeistert, er ist ein Hurensohn und aus künstlerischer Empfindlichkeit ist er immer etwas pikiert, wenn etwas Negatives über Hurensöhne gesagt wird. Da die Stimmung sowieso schon am Nullpunkt war, war das jetzt auch egal.
"Es ist gleich Mitternacht!" In Windeseile wurde die Glückskekse geöffnet und alle lasen vor:
"Geben Sie aus Grumütigkeit nicht nach, wenn man Sie zu etwas überreden will." stand auf meinem, ich improvisierte und tat als ob ich vorlese:
"Ich werde in einer chinesischen Glückskeksfabrik gefangen gehalten." Aber für diesen mauen Scherz hatte ich mir die falsche Gesellschaft ausgesucht. Ich wurde belehrt, dass dieses Gebäck in Deutschland hergestellt werde, das wisse doch jeder!
Dann versuchten wir während der Glockenschläge, 12 Weintrauben herunterzuschlucken, ohne zu kauen und gleichzeitig einen Pfannkuchen zu verschlingen. Das bringt Glück, aber nur, wenn man es schafft.
Wir verschluckten uns, husteten und schnappten nach Luft. Dann schlangen wir weiter, unsere Luftröhren verstopften mit Pfannkuchen, Marmelade und Weintrauben und wir erstickten röchelnd, als wir uns auf dem Boden wälzten.
Der zwölfte Glockenschlag war noch nicht verklungen, als es für uns zu Ende war.
Das Jahr fing ja gut an!

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